Endlich solidarisch
Endlich solidarisch

Der Umgang mit den Pandemien in den vergangenen Jahren hat gezeigt, dass große Teile der Gesellschaft den Nutzen allgemein verbindlicher Regeln und Maßnahmen befürworten und begrüßen. Nach dem großen Erfolg der Impfkampagne blieb ein letzter wichtiger Bereich, den es zu optimieren galt: die vollständige Ausmerzung jeder Diskriminierung. Das Ministerium für Bürger:Innenrechte und Geimpft:Innenwürde hatte sich ehrgeizige Ziele gesetzt – heute sind sie erreicht!

Vordergründig ging es um die Eliminierung von Homophobie und ähnlichen psychischen Krankheiten. In der Folge können die daraus gewonnen Erkenntnisse in weitere denkbare Richtungen angewendet werden.

Der Erfolg der Kampagne hat dazu geführt, dass von allen solidarischen und verantwortungsvollen Bürger:Innen erkannt wurde, dass das Beharren auf heterosexuellen Beziehungen uralten Prägungen entstammt, die für moderne Menschen keine Gültigkeit mehr haben können. Der Durchbruch für diese Erkenntnis kam mit der Einführung des Solidaritätsnachweises. Damit bestätigt die*der einzelne, dass jede Form geschlechtlicher Beziehungen gepflegt wird – ohne diskriminierende Ausnahmen. Der Nachweis erfolgt durch digitale Einträge im persönlichen Bürger:Innen-Ausweis, einer Fortentwicklung des Impf- und CO2-Ausweises. Das Ministerium gab sich große Mühe, die Anforderungen so einfach wie möglich zu halten, was bedeutet, dass kein*e Dritte*r als Zeuge eingeschaltet werden muss. Dies wurde allseits begrüßt, die zugehörige Kampagne wurde entsprechend zurückhaltend und warmherzig konzipiert.

Nach nur wenigen Wochen konnten bereits über eine Million Menschen ihre Diskriminierungsfreiheit nachweisen. Alles, was sie dazu tun mussten, war, einen beliebigen sexuellen Akt mit einem gleichgeschlechtlichen oder diversen Partner durchzuführen, sich dabei zu filmen und das Video in ihren Bürger-Account hochzuladen. Selbstverständlich waren die Inhalte nicht für die Allgemeinheit bestimmt, sondern wurden nur bei den notwendigen Zugangskontrollen gesichtet, bei Besuchen von Restaurants, öffentlichen Einrichtungen Sportstätten usw. Jede*r wusste ohnehin, dass ohne Vorlage des digitalen Bürger:Innen-Ausweises keinerlei Zutrittsrechte bestanden, und das war auch gut so.

Anfänglich hatten die allseits bekannten Gruppierungen gegen die Einführung der Solidaritätsnachweise protestiert. Sie pochten auf die Selbstbestimmung der eigenen Sexualität, längst überholten, ewiggestrigen Grundrechten, sie entblödeten sich nicht einmal, Würde ins Spiel zu bringen. Insgesamt verstiegen sie sich zu der Behauptung, dass hier eine Grenze, gar eine rote Linie überschritten würde. Doch damit entlarvten sie sich selbst: wer heute noch in Grenzen denkt, hat nicht verstanden, was Solidarität wirklich bedeutet. Die Proteste währten nur kurz. Ein Grund könnte auch darin bestanden haben, dass ohne das erweiterte digitale Bürger:Innen-Zertifikat weder Transporte, Treffen oder Internetzugang möglich waren, was die Koordination mutmaßlich erschwerte.

Das Ministerium lieferte täglich aktualisierte Statistiken, die voller Wissenschaft waren. Dagegen half auch kein Protest mehr, schließlich war sich die Wissenschaft einig. Als dies nicht mehr bestritten werden konnte, waren alle wahrhaft verantwortungsvollen Bürger:Innen bereit, ihre Pflicht zu tun. Es bildeten sich auf Basis der Schwarmintelligenz bunte regionale und überregionale Gruppen, deren Mitglieder:Innen sich daran machten, ihre Offenheit zu beweisen. Niemand sollte sagen können, man würde in alten Mustern denken und leben, keine*r sollte den Vorwurf erheben, das Allgemeinwohl wäre nicht das höchstes Gut. Außerdem wollten sie einen gültigen Ausweis und damit weiterhin Zugang zu ihrem Leben. So fanden sich Millionen von Männern mit anderen, wildfremden Männern zusammen und öffneten sich weit für Neues. Für Frauen galt selbstverständlich dasselbe, sie hatten es in diesem Fall – ganz im Gegensatz zu allen anderen Bereichen – hier etwas leichter. Für die meisten eine vollkommen neue Erfahrung, doch im Namen der Solidarität mit der Neuen Gesellschaft war ihnen dieser Preis nicht zu hoch. Die Hochrisikogruppe – alte weiße Männer – konnte sich gegen einen Kostenbeitrag mit hilfreichen Substanzen versorgen.

Die Vorgaben seitens des Ministeriums zum Beweis des Vollzugs waren äußerst zurückhaltend. Das mit der persönlichen Bürger:Innen-App gestartete Aufnahmeprogramm konnte insgesamt fünf Mal aufgerufen werden, erst dann musste der Videobeweis endgültig erbracht sein. Härtefälle – oder das Gegenteil – wurden individuell beschieden, dann allerdings unter Aufsicht einer Amtsperson, die anschließend als Viedeoschiedsrichter:In fungierte.

Nach einem Jahr war ein merklicher Anstieg diverser Infektionen zu verzeichnen. Doch hier stand glücklicherweise die Medizin tatkräftig zur Seite. Neue, aktuell entwickelte xRNA-Impfungen boten gerade rechtzeitig die nötige Sicherheit. Schnell wurden Kombi-Angebote gemacht, so dass die halbjährigen Covid-, Grippe- und Katzenpest-Impfungen einfach um einen weiteren Wirkstoff ergänzt wurden. Dank des allgemeinen Bürger:Innen-Ausweises verpasste niemand mehr seine Termine, da die Folgen für den Einzelnen zu gravierend gewesen wären. Und schließlich diente es ja etwas Gutem: dem Schutz der anderen Geimpften. Jeder Pieks war gelebte Solidarität.

Wieder einmal hatte sich gezeigt, dass die Menschen – entgegen manch pessimistischer Meinung – sehr wohl in der Lage waren, ihr Verhalten vollkommen freiwillig zu ändern. Die allermeisten sind der Pandemie heute noch dankbar, dass sie mittels dieses massiven Einschnittes in ihr Leben den überragenden Vorteil zentraler Steuerung erleben durften. Nur wenige erinnern sich noch an die Zeit, in der einzelne der Idee anhingen, sich selbst zu verwirklichen.

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