Glaubensprüfung
Eine Glaubensprüfung?

Drei-Klassengesellschaft, was soll daran neu sein? Immer schon gab es Unter-, Mittel- und Oberschicht. Die gibt es auch heute noch, höchstens werden die Gräben von Jahr zu Jahr tiefer und die Mitte nimmt – anders als in den letzten Jahrzehnten – beständig ab. Das haben allerdings die meisten akzeptiert, darüber gibt es keinen Familienstreit, deswegen geht heute kein Linker mehr auf die Straße.

Und doch hängen dunkle Konfliktwolken über Familien, Freundschaften, Kollegen, sogar Ehen. Der Grund dafür ist eine neue Drei-Klassengesellschaft. Sie existiert zwar auch schon länger – gesprengte Freundschaften oder gar zerstrittene Partnerschaften waren jedoch selten die Folge. Die drei Klassen heute bestehen aus Gläubigen, Zweiflern und Ungläubigen. Klingt wie bei allen Religionen und funktioniert auch so ähnlich, doch existiert ein entscheidender Unterschied, etwas, was es bisher noch nicht gegeben hatte: Die Ungläubigen versuchen mit großer Energie, die Gläubigen von ihrem Glauben abzubringen.

Die Gläubigen wiederum haben große Furcht – vor der Welt und ihrer Sterblichkeit natürlich, das ist schließlich der Urgrund ihrer Religion – vor allem aber vor den Bekehrungsversuchen. Sie tun alles, um sich und ihren Seelenfrieden zu schützen. Wenn sich ein Ungläubiger mit einem scharfen Argument nähert, so weicht der andere gewohnheitsmäßig aus, wirft ihm eine Statistik entgegen, die vollkommen rein und unverfälscht scheint. Doch sie verfehlt ihr Ziel nicht nur, nein, schlimmer noch, sie liefert dem Widersacher sogar weitere Energie. Wie mit einem magischen Schild schleudert er das Ding zurück, verzogen und verbogen, so dass die doppelt faktengeprüften Zahlen kaum noch zu erkennen sind. Das ist dem Gläubigen nun zu viel, er straft den anderen mit Exkommunion aus dem Reich der vernünftigen Menschen und lässt den ihn klagend und frustriert zurück.

Abends vor dem häuslichen Altar erzählt er seiner Partnerin von dem grässlichen Vorfall. Wie von unsichtbarer Macht erhört, erstrahlt in diesem Moment eine neue reine Statistik mit noch größeren Zahlen aus dem Altar. Mit lautem Seufzen der Bestätigung lehnen beide sich zurück, halten sich die Hände und sind wieder einmal froh, auf der richtigen Seite zu stehen. Man muss sich die Gläubigen als zutiefst rechthabende Menschen vorstellen.

Jeder möchte irgendwo dazugehören

Die Ungläubigen haben es dagegen schwer im Leben. Ständig müssen sie nach Zeichen der Zugehörigkeit suchen, nach Gefährten ähnlicher Couleur. Doch es gibt so viele Farben, was passt zusammen, was nicht? Oft stellt es sich erst nach Wochen, Monaten oder gar Jahren heraus. Hinzu kommen die Kämpfe mit den Gläubigen, die sich nur selten bekehren lassen. Ent-kehren, müsste es wohl heißen. Doch deren Gott ist mächtig, verfügt über viele, viele selbst erschaffene Milliarden, mannigfaltige Frequenzen und gigantische Heerscharen von Dienern und Wahrheitsträgern. Niemand wagt es, ihn direkt anzugreifen, denn wenn auch längst keine andere Freiheit mehr existieren sollte, die Freiheit dieses Gottes ist unantastbar. Sollte es dennoch jemand wagen, so wird dessen Vernichtung angemessen im Altar zelebriert.

Wo sind die Zweifler?

Dazwischen gibt es noch die Zweifler. Ihre Zahl wächst seit Jahren beständig. Sie haben – schon längst oder erst vor kurzem – bemerkt, dass Realität und Fakten tatsächlich stärker sein können als dieser übermächtig scheinende Gott. Es war dies eine äußerst schmerzliche Erkenntnis. Doch weil sie vor ihrem Altar viele Jahre treu gehuldigt haben, können sie sich nicht so einfach von ihm lösen. Der Schmerz rührt auch daher, dass sie sich eingestehen müssten, so lange Zeit an einen falschen Götzen geglaubt zu haben. Was würde das über sie selbst, ihr Urteilsvermögen, ja gar ihre Vernunft aussagen? Und außerdem taten es ja fast alle! Also konnten sie es gar nicht besser wissen. Jetzt, wo der Zweifel sich in ihr Herz gefressen hat, wissen sie nicht mehr ein noch aus. Wenn die Wahrheiten des Götzen die falschen waren, was sind dann die richtigen? Wer kann ihnen einen neuen Glauben schenken? Die Ungläubigen etwa? Das wäre ein Widerspruch in sich! Sich selbst auf die Suche machen? So viel Zeit hat man nicht, das kann keiner verlangen. Und so wichtig ist es am Ende vielleicht auch nicht. Hauptsache man kommt einigermaßen durch, sicher gibt es Menschen, die sich darum kümmern. Nur die Ungläubigen, die möchte man nicht mehr um sich haben. Ein wenig Zweifeln ist ja in Ordnung, aber sich ganz abzuwenden, das geht zu weit.

Endlich die Spreu vom Weizen trennen!

Da die Zahl der Zweifler und Ungläubigen seit Jahren immer weiter stieg wurden nun wirkungsvolle Maßnahmen eingeführt. Eine extreme Prüfung wurde ersonnen, welche die Spreu vom Weizen trennt: um das Zertifikat des wahren Glaubens zu erlangen muss jede und jeder bereit sein, das eigene Leben zu riskieren! Nichts weniger als das, laue Gesellen kann diese Gesellschaft nicht brauchen. Denn das Innerste wird hierbei geprüft, Scheinheilige und Leugner schaudert vor diesem Schritt. Bestehen kann nur, wer seine Zellen dazu geißelt, Dinge hervorzubringen, für die sie niemals geschaffen worden waren. Milliarden und Abermilliarden neu erschaffenen Geldes wurden bereitgestellt, um allen – Kindern, Erwachsenen und Greisen – diese Prüfung zu ermöglichen. Und der Erfolg ist grandios! Niemals in der Geschichte kamen solche Massen zur Kommunion wie zu diesem Akt des Unhinterfragbaren. Schreiend, zitternd, dankbar vor Glück nahmen sie ihre Zertifikate in Empfang, die sie als wahre Gläubige ausweisen. Zumindest bis zur nächsten Zellgeißelung.

Doch wie bei jeder schweren Prüfung gibt es auch hier Fälle des Scheiterns. Manchmal bis zum Tod, genauso wie damals. Entweder war des Prüflings Glaube nicht stark genug, seine Zellen nicht empfangsbereit oder es war ein getarnter Zweifler oder gar Leugner. Jedenfalls fielen gar nicht wenige diesem Gesinnungstest zum Opfer. Und kein Mensch weiß, wie viele noch unter ihnen sind, die verborgene Zweifel mit sich tragen und die Prüfung ihren furchtbaren Zoll erst nach Jahren fordert.

Es ist ein großer Erfolg, dass die Ungläubigen nun von jedermann erkannt werden. Sie stehen vor Geschäften, Kinos, Restaurants oder Schwimmbädern und drücken traurig ihre Nasen an die Fensterscheiben. Lange werden sie nicht durchhalten, der Winter ist kalt und für solche menschenunähnlichen Subjekte gibt es bald weder Strom noch Gas noch Holz. Dies wurde aus reiner Solidarität so entschieden. Im besten Glauben. Dagegen kann nun wirklich keiner etwas sagen.

Dieser Beitrag erschien ebenfalls – mit einer ausführlichen Kommentierung – bei „Peds Ansichten

 

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