Luftballone

Es gibt diverse Methoden, um die Kreativität aus ihrem versteck zu locken! Eine davon ist es, aus einer „Krabbelkiste“ mit geschlossenen Augen einen Gegenstand hervorzuholen, der sodann zur Inspiration wird. Und zwar ohne zu Zögern, zu Hadern oder ihn gar gegen etwas anderes auszutauschen!

So ist dieser Text entstanden. Der Gegenstand, den ich in jener Schreibwerkstatt zog, war eine kleine Glaskugel mit einem Delfin. Daraus wurde „Luftballone“.

Luftballone

Heute war ein kleines Jubiläum für mich: ich war zum 100. Mal im Sea Aquarium in Miami, Florida. Das erste Mal war ich glaube ich fünf oder sechs Jahre alt, als mich meine Eltern hierher mitnahmen. Das Einzige, an das ich mich noch ganz genau erinnern kann, das war der Delphin, der durch den Ring sprang und mich bei der Landung patsch nass gespritzt hatte. Angeblich hatte ich minutenlang geweint. Sagt meine Mutter.

Seither war ich jedes Jahr ein paar Mal da, später mit meinen College-Freunden, die ich immer wieder gerne einlud. Und natürlich mit jedem neuen Girl. Ein wunderbarer Ort zum Flirten.

Aber heute ist alles anders. Es war ein merkwürdiges Gefühl, als ich heute Morgen zum Tor hinein bin. Wie etwas, das man schon lange kennt, aber plötzlich mit ganz anderen Augen sieht. Vielleicht, wie wenn man nach acht Wochen Urlaub wieder in seine Wohnung zurückkehrt und die Vertrautheit fehlt. Man nimmt plötzlich den Geruch der Zimmer wahr, sieht die Farben der Tapeten und hört die Heizung rumpeln. So ähnlich war mein Gefühl heute, als ich das Delphinbecken sah, die Tribünen, die Süßigkeiten Stände, die Kassenhäuschen.

Jetzt kommt mir gerade wieder der Moment in den Sinn, wo ich zum ersten Mal kapiert habe, dass ich nie würde für Geld arbeiten müssen. Es war an meinem 16. Geburtstag, und nachdem alle weg waren nahm mich Dad mit ihn sein Büro. Er schloss den Safe auf – vor mir! – was noch nie geschehen war, sagte, ich solle zu ihm kommen. Ich blickte in den Safe und sah vor allem Papiere. Hinten waren auch Geldbündel. Und Goldbarren. Erstaunt blickte ich ihn an und als er meinen Blick sah schmunzelte er. Dies alles wird ein Mal dir gehören, mein Sohn. Ein Vergnügungspark, 500 Wohnungen, eine Aktiengesellschaft und diverse Villen. Du wirst nie in deinem ganzen Leben wegen des Geldes arbeiten müssen. Ich kann mich heute noch exakt an jedes Wort erinnern.

Seitdem versuchte ich ein Gefühl dafür zu bekommen, was das bedeuten mochte. Nie arbeiten zu müssen. Richtig reich sein. Er sagte später etwas von 300 Millionen. Mehr als ein normaler Mensch ausgeben konnte. War ich jetzt überhaupt noch ein normaler Mensch? Und was war ein normaler Mensch? Wieviel durfte man besitzen, um noch als normal zu gelten? Ein Haus? Eine Firma? Eine Million oder fünf? Was bedeutete überhaupt normal? Und warum wollte ich normal sein? Wollte ich das überhaupt?

Sie sehen, schwierige Fragen im Leben eines 16-jährigen. Die meisten Menschen haben das Glück, sich nie mit so etwas beschäftigen zu müssen. Aber so viel Glück hatte ich nicht. Mich traf es mit voller Wucht. Meine Eltern waren mir auch keine Hilfe, meistens waren sie in Nizza, Martinique oder Singapur. Wegen der Segelyacht.

Also musste ich es allein schaffen. Verstehen Sie? Ich wollte es allein schaffen, irgendwie damit klar zu kommen. Verdammte Freiheit. Soviel davon hätte ich nie gebraucht. Später am College habe ich Philosophie belegt, damit ich klarer sehen konnte. Aber die alten Philosophen haben immer alles von der anderen Seite betrachtet: was kann der Mensch tun, um frei zu sein. Das war nicht mein Problem. Ich hatte zu viel davon.

Und dann geschah es völlig unerwartet. An einem Platz, an welchem ich schon hunderte Male achtlos vorüber geschlendert war. Doch an diesem Tag sah ich das glücklichste Mädchen der Welt. Sie verkaufte Luftballons an Kinder, und als Bezahlung forderte sie von jedem ein Lächeln und wenn sie noch ganz klein waren, ein Küsschen auf die Wange. Sie strahlte den ganzen Tag und war so unbeschreiblich fröhlich. Und da begriff ich: ich hatte die Freiheit, genau das zu tun, was mir am meisten Freude machte, egal wieviel oder wie wenig Geld damit verdient ist.

Ein Jahr später haben wir geheiratet. Und jetzt bin ich hier, wie sie sehen. Sperre jeden Morgen meinen Park auf und helfe meiner Frau Luftballons an glückliche Kinder zu verkaufen.

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