Das Treffen

André trifft erstmals in seinem Leben einen Beamten des Ministeriums für Glück und Zusammenhalt. Persönlich. Seine ängstliche Neugier wird übertroffen von dem, was ihm Yassir zu den Ereignissen seiner Jugend im Jahr 2025 mitteilt. Doch das Unfassbare eröffnet er ihm am Ende ihres Treffens…
In ‚Das Treffen‘ werden Ereignisse aus unserer Zeit im Rückblick betrachtet und erhalten dadurch eine ganz neue Perspektive. Für alle, die gerne über den Tellerrand der üblichen Narrative hinausblicken. Der Protagonist könnte leicht eine(r) der LeserInnen von heute sein…

„Nun, werter André, du fragst dich sicher, weshalb das Ministerium ein physisches Treffen vorgeschlagen hat?“

„Verehrter Yassir, ich muss gestehen, dass ich wirklich neugierig bin und auch diesbezüglich schon verschiedene Emotionen gefühlt habe. Eine Aufklärung würde mir hier sicher helfen.“

„Nun, das soll geschehen. Ich muss dich aber um ein wenig Geduld bitten. Denn zunächst werde ich Dir einige Dinge über unsere schöne Welt erzählen, die nicht alle in den Streams auftauchen und auch nicht vollständig im Gemeinschafts-Wiki zu finden sind.“

Andrés Neugier war geweckt. Mehr als das, er beugte sich vor und starrte Yassir unverhohlen an. Erst als er sein unschickliches Verhalten bemerkte lehnte er sich wieder zurück und senkte den Blick.

„Nun denn, André, deine Neugier soll gestillt werden. Du bist heute 64 Jahre alt, bald wirst du 65, das heißt du hast den Großen Wandel im Alter von siebzehn Jahren selbst miterlebt. Womit du mir etwas voraus hast,“ fügte Yassir mit einem Lächeln hinzu, das wohl vertraulich aussehen sollte.

„Als die Spaltung der Gesellschaft damals einen so hohen Grad erreicht hatte, dass in den meisten westlichen Ländern bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten, wurde es den Finanz-Eliten angst und bange. Ihnen war klar, dass ihr Reichtum und ihre Sicherheit davon abhingen, dass sie stets genügend Menschen zur Verfügung hatten, welche sie gegen ordentliche Entlohnung sicher und unter Einsatz des eigenen Lebens beschützen würden. Doch die Leibwächter und paramilitärischen Einheiten wurden immer unzuverlässiger. Sie nahmen teil an den Unruhen, sie entwickelten eigene Sichtweisen und schlugen sich dem einen oder anderen Lager zu. Am Ende mussten die Eliten gewaltige Summen bieten, um sich einen Rest Loyalität zu erkaufen. Und doch war dies ein fragiler Zustand. Nach mehreren Monaten war klar, dass eine Rückkehr zur Normalität nicht mehr möglich war, zu viele Opfer hatte es auf beiden Seiten schon gegeben. Zudem hatten praktisch alle Nachrichtenkanäle den letzten Rest an Vertrauen eingebüßt, abgesehen davon, dass viele Redaktionstürme einfach gesprengt worden waren. Es gab keine Möglichkeit mehr, ein gemeinsames Narrativ für die Mehrheit zu erschaffen.“

Yassir nahm einen Schluck von seinem Lattocino.

„Ich weiß, dass du das selbst miterlebt hast. Wo warst du zu dieser Zeit?“

André zögerte. Nicht weil er nicht antworten wollte, sondern weil er in tiefen Schichten seines Gehirns lange nicht mehr verwendete Areale aktivieren musste.

„Ich war siebzehn und lebte in Berlin, so hieß es damals noch. Ich hatte mich der Gruppe „Für ein freies Europa“ angeschlossen und wir kämpften gegen alle anderen Gruppen. Ich war fast täglich auf der Straße, es war wie Krieg, nur dass wir nicht wirklich wussten für oder gegen was wir eigentlich kämpften. Viele hatten den Wunsch, es den Politikern und Superreichen so richtig zu geben, aber keiner wusste, wo sie zu finden waren. Also kämpften wir gegen irgendwelche anderen Gruppen. Es wurde immer gewalttätiger, zwei meiner Freunde sind umgekommen.“

André brach ab. In seinen Erinnerungen stiegen Bilder auf von denen er nicht gewusst hatte, dass sie überhaupt noch da waren. In einer Mischung aus Wehmut und Verwunderung schüttelte er leicht den Kopf.

„Du bist wieder dort.“

Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Yassir wendete seinen Blick nicht ab von André, der nun versunken auf seinem Stuhl saß.

„André, mir ist bewusst, dass es eine verrückte und grausame Zeit war, ich habe genug Streams von damals gesehen. Und auch wenn ich nicht dabei war, so möchte ich dir heute ein wenig von dieser Zeit erzählen. Und ich bin mir sicher, dass du dabei Neues erfahren wirst.“

André hörte Yassir sprechen, seine Worte flossen durch seine Ohren, zum Trommelfell, durch den Hörnerv und dann – gingen sie irgendwo verloren. Blicklos sah er den Mitarbeiter des Ministeriums an.

„André! Hör mir zu. Ich möchte, dass du vor deinem 65. Geburtstag wichtige Tatsachen erfährst, auch wenn sie schon mehr als 40 Jahre zurückliegen!“

Endlich hatte er die Aufmerksamkeit zurückgewonnen. André blickte ihn direkt an, mit leicht verschwommenem Blick, aber er war wieder da.

„Nun,“ fuhr Yassir fort, „die Kämpfe waren wild und planlos, ohne klare Fronten. Es muss etwas Endzeitliches gehabt haben.“

André nickte wortlos.

„Als das Computerzentrum der Wall Street gesprengt wurde, begann die letzte Phase. Kannst du dich daran noch erinnern?“

André nickte.

„Ja, das weiß ich noch. Denn direkt danach haben sie das Internet abgeschaltet und auch den Mobilfunk. Wir waren quasi blind und stumm.“

„Richtig. Das war die Ultima Ratio der Finanzeliten, denn erstmals war ihr Reichtum wirklich in Gefahr. Und in den folgenden drei Wochen gab es praktisch keine Nachrichten mehr für euch, alles was du darüber weißt, hast du erst hinterher erfahren als das Netz wieder in Betrieb war.“

„Richtig, das war vielleicht die verrückteste Zeit meines Lebens. Wir ahnten ja schon, wie abhängig wir vom Netz waren, aber es dann wirklich zu erleben, das war absolut crazy. Keiner wusste mehr was los war, gegen wen oder was man kämpfen sollte oder wie wir uns verabreden konnten. Nach dem ersten Chaos wurde es dann ruhiger auf den Straßen, vor allem weil man auch nichts mehr kaufen konnte. Keine Zahlungen mehr mit Karte, Bargeld hatte ja fast niemand mehr. Und dann begannen die Plünderungen.“

„Ja, ich weiß. Es muss wie im Krieg gewesen sein.“

„Was heißt ‚wie im Krieg‘? Es war Krieg. Jeder gegen jeden, nur mit dem Unterschied, dass keine Bomben von oben fielen. Als die Soldaten kamen war ich richtig froh.“

„Zum Glück gab es noch genügend Soldaten, die ihren Befehlen gehorchten. Sonst würden wir vielleicht beide nicht heute hier sitzen“, sinnierte Yassir.

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