Früher war alles besser
Mühsam erhob sie sich von ihrer Pritsche. Was war das nur für ein Tagtraum gewesen, der sie wie aus dem Nichts überfallen hatte? Doch er war nicht neu. Wieder und wieder hatte sie diese Bilder durchlebt, die sich bei ihr ebenso wie bei fast allen Menschen ins Gedächtnis gebrannt hatten. Wie bei 9/11 stand das Datum für einen fundamentalen Wendepunkt: 8/10, der zehnte August. Der Tag, an dem sie gelandet waren. Nicht wie in all den Hollywood-Filmen irgendwo in den USA sondern ganz unscheinbar in mehreren ländlichen Gegenden. Einige Landungen waren gefilmt worden und fanden ihren Weg über x.com, Instagram & Co ins allgemeine Bewusstsein. Allerdings nur in den ersten Stunden, dann war alles tot. Sie schüttelte unmerklich den Kopf, wusste, dass kein einziger Jet aufgestiegen, keine einzige Drohne die Schiffe überflogen hatte, denn die Elektronik funktionierte nirgendwo mehr. Dann fiel das Internet aus, die Radio- und Fernsehsender, E-Mail, Telefon, einfach alles. Die Menschen waren blind und taub für das, was in der Welt geschah.
Über drei Jahre war es nun her, doch die Folgen waren allgegenwärtig. Besonders für mich, murmelte sie verbittert und sah sich in dem kleinen Raum um, der nun ihr zu Hause war. Wie oft hatte sie innerlich all die Mitarbeiter der Dienste und der verschiedenen Abteilungen verflucht, die sie nicht vorgewarnt hatten. Es wäre ein Schwarzer Schwan gewesen, hörte man von allen Seiten, ein Ereignis, das jenseits der Vorhersehbarkeit gewesen war. Mag schon sein, aber man kann sich auf alles vorbereiten, man muss das Undenkbare denken, die unknown Unknowns eben auch berücksichtigen. Das hätte sie ihnen am liebsten entgegengeschrien. Wenn sie nur ein einziges Mal die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Hatte sie aber nicht.
Als sie damals nach drei Tagen an ihre Türe gekommen waren, ahnte sie noch nichts Böses. Wie auch, ohne jede Kommunikation. Niemand wusste, was da draußen geschah, sie selbst eingeschlossen. Als sie ihr diesen seltsamen Helm aufgesetzt hatten schwante ihr nichts Gutes. Und wie immer behielt sie recht.
Wieder schüttelte sie den Kopf. Bis zu diesem unseligen Moment war alles immer perfekt gelaufen für sie. Das war weder Zufall noch göttliche Fügung. Sie hatte selbst dafür gesorgt, dass die Welt so war, wie sie es wollte. Alles war gut, alle hörten auf sie, viele fürchteten sie. In jedem Fall konnte sie sich darauf verlassen, dass alle das taten, was sie wollte. Die Dienste, die Journalisten, die Staatsanwälte und Richter, all die Kommissionen und vor allem die Politkasper, die um sie herumscharwänzelten. Wenn ihr ein Wahlergebnis nicht passte, so konnte sie es einfach rückgängig machen lassen. Ja, das war eine gute Zeit. Gut und erfolgreich. Natürlich lag das auch an ihrer Verlässlichkeit. Alle wussten, dass sie stets bestens versorgt würden, wenn sie jederzeit ihren Willen erfüllten. Hohe Ämter, beste Bezahlung, riesige Pensionsansprüche, Jobs für Freunde und Familie, alles war bestens geregelt.
Böswillige Zungen nannten dies eine üble Form von Korruption. Dafür wurde ihnen morgens um sechs die Tür eingetreten und die Wohnung durchsucht. Vor dem Zubettgehen sah sie sich gern die Videos dieser Demokratiefeinde an, wenn sie im Bademantel oder ganz und gar unbekleidet auf dem Boden lagen. Das gab ihr stets ein wohliges Gefühl. Dabei wusste doch jeder: Solange man sich an die Linie hielt, an das Narrativ, wie es heute oft genannt wurde, konnte nichts Schlimmes geschehen. Wie einfach das doch war. Entsprechend waren einfache Geister auch die treuesten Verbündeten. Alles funktionierte wunderbar, über zwanzig Jahre lang. Bis zu jenem Tag: dem schwarzen Schwantag.
Während ihrer Gedankenketten war sie langsam durch den Raum gewandert, nun stand sie direkt vor der Wand. Langsam drehte sie sich um und lehnte mit einem Seufzer ihren Rücken an den kühlen Putz. Verzweiflung kroch uneingeladen in ihr hoch. Wandelte sich unvermittelt in das Gefühl der totalen Machtlosigkeit. Grimmig begrüßte sie es, denn es war zu ihrem zuverlässigsten Begleiter geworden.

Früher war alles besser, flüsterte ihr treuer Begleiter tonlos. Früher, da hattest du die Zügel fest in der Hand. Niemand wagte zu widersprechen, und wenn doch, dann hast du ihm oder ihr in deiner ganz besonderen Art dein Vertrauen ausgesprochen, weißt du noch? Mit einem weiteren Seufzer drückte sie sich ab von der Wand und setzte ihren Rundgang durch die zwölf Quadratmeter fort. Sie konnte und wollte diese alten Geschichten nicht mehr hören. Natürlich hatte sie alles unter Kontrolle gehabt, natürlich wusste jeder, wie man sich zu verhalten hatte, um ihre Gunst nicht zu verspielen. Aber das waren alte Geschichten, aus einer Zeit, als noch alles gut war! Aber diese Zeiten sind vorbei, sie kommen nicht wieder, sie hatte die neue Realität, dieses wirklich Neue Normal doch längst akzeptiert! Weshalb also immer wieder diese Rückfälle, diese nostalgischen Flash backs?
Vielleicht weil sie das Einzige sind, das dich nicht vollkommen verzweifeln lässt? Erschrocken lauschte sie dieser inneren Stimme. Es war ein ganz neuer Gedanke. Woher war er gekommen? Nein, nein, beschwichtigte sie sich selbst, ich bin nicht verzweifelt. Ich bin stark und unbeugsam, die restlichen sieben Jahre werde ich auch noch überstehen! Doch diese Vorstellung, die alles andere als neu war, warf sie heute aus der Bahn. Sieben Jahre! Das ist zu viel, das ertrage ich nicht, das ist einfach unmenschlich!
Auf einmal stand das Bild ihrer Verhandlung vor ihrem inneren Auge. Sie sah sich selbst im Gerichtssaal, vor sich das Richterpult. Entsetzt hatte sie damals festgestellt, dass keiner UnsererRichter den Vorsitz führte, sondern eine dieser Kreaturen. Sie konnte nicht erkennen ob es eine Maschine oder ein biologisches Wesen war, da es immer nur über eine Art Bildschirm kommunizierte. Schriftzeichen, die in der Mitte des Körpers aufleuchteten, wie auf einem Monitor. Obwohl da keiner war. Das war ein schwerer Schlag gewesen. Sie hatte sich stets auf UnsereJustiz verlassen können, so wie alle anderen auch. Niemand von ihnen war jemals verurteilt worden in der guten alten Zeit. Der nächste Schock war, dass auch der Staatsanwalt keiner aus ihrem Kreis war. Als sie einen Anwalt gefordert hatte und eines dieser Wesen zu ihr kam, hatte sie dankend abgelehnt. Das konnte sie dann auch selbst übernehmen.
Doch der größte Schrecken stand noch bevor. Es war einfach unfassbar gewesen, noch heute geisterte diese Sequenz durch ihre Träume. Wollte sie sich das jetzt wirklich schon wieder zu Gemüte führen? Oder hatte sie schlicht keine Wahl? Ihr Unterbewusstes traf die Entscheidung und der innere Film setzte sich fort.
All die Anklagepunkte, die ihr präsentiert worden waren, hatte sie in bewährter Manier weggelächelt. Sie wusste zwar, dass es nicht aussah, wie ein Lächeln, denn ihre tief nach unten gezogenen Mundwinkel wanderten dabei nur ein wenig nach oben. Aber für sie selbst fühlte es sich an wie ein Lächeln. Und nur darauf kam es an. Als diese Richter-Imitation zum ersten Anklagepunkt kam, fühlte sie sich gut gewappnet. Sie wusste ja, dass ihr nichts geschehen konnte. Sie verteidigte sich mit Hinweis darauf, dass man es zu diesem Zeitpunkt nicht besser hatte wissen können. Das funktionierte immer. Doch dann dieser Schock, dieser unermessliche Schrecken, als die Aufnahme abgespielt wurde. Sie hatte ja nicht ahnen können, das so etwas überhaupt möglich war! Doch es war möglich. Dieser Helm! Sie nannten es Motiv-Analysator. Es war noch viel grausamer als ein Lügendetektor, denn er zeigte zu jeder vergangenen Entscheidung ihre wahren Motive an. Das Schlimmste war, dass das Ding sogar mit ihrer eigenen Stimme sprach! Und was da herauskam trieb ihr alle Farbe aus dem Gesicht. In einem Moment noch stolz und unbeugsam an ihrem Platz stehend, im nächsten Augenblick zitternd auf den Stuhl gesunken. Das war unfair! Niemand hatte das Recht, die wahren Motive aus einem herauszusaugen! Die gingen niemanden etwas an, niemanden!
Doch das war noch nicht alles. Es waren insgesamt 302 Anklagepunkte und das verflixte Ding spie zu jedem einzelnen ihre jeweils wahren Absichten heraus. Ekelhaft. Nicht die Absichten, natürlich nicht, sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Aber dass dies nun alles in dieser obszönen Weise ans Licht gezerrt wurde, das war ungeheuerlich. Wer hätte je mit so etwas rechnen können? Sehr bald schon hatte sie darauf verzichtet, sich zu verteidigen. Was hätte sie auch sagen sollen? Der Möglichkeit beraubt, alles nach ihrem Gusto hin- und herzudrehen, bis es ganz und gar unverfänglich klang, saß sie tagelang in sich zusammengesunken auf der Anklagebank und lauschte all dem, was ihr vorgeworfen wurde. Auch das Urteil nahm sie wortlos entgegen. Zehn Jahre Einzelhaft, keine Berufung möglich. Wie auch, wenn all UnsereRichter und UnsereStaatsanwälte selbst verurteilt wurden. Das Einzige, was ihr ein wenig Trost spendete – falls das überhaupt möglich war – das war die Tatsache, dass sie nicht die einzige war. Nein, es waren Zigtausende, denen der Prozess gemacht wurde, in allen Ländern, denn alle Urteile wurden öffentlich gemacht. Seit es wieder Nachrichten gab.
Mit Schaudern erinnerte sie sich an die ersten Tage, als diese widerlichen Sendungen ausgestrahlt worden waren. Vollkommen unbekannte Dilettanten hatten sie verlesen. Ja, es waren wohl echte Menschen, doch sie hatten offensichtlich niemals eine Schulung erhalten, hielten das Framing-Manual vermutlich für eine altmodische Bedienungsanleitung. Sie berichteten einfach, was war. Ohne Einordnung, ohne das offizielle Vokabular, ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Regierenden. Im Geiste verbesserte sie sich: der Ex-Regierenden. Keine Würdigung all ihrer großen Taten in der guten alten Zeit, als alles noch seinen geregelten Gang gegangen war. Kein Respekt vor all den Lebensleistungen, der Aufopferung, vor Idealismus und höchster Moral. Sie selbst war es gewesen, die UnsereDemokratie erfunden hatte! Und UnsereMedien hatten es dem Volk so verkauft, dass sie dachten, dieses «Unser» hätte etwas mit ihnen zu tun. Wirklich genial. Sie demonstrierten sogar für UnsereDemokratie und bemerkten nicht im geringsten, für was sie da eigentlich auf die Straße gingen. Das Pack war so einfach zu lenken, das war schöner als jede Zirkusvorstellung. Und wenn dann wirklich einmal echte Demonstrationen stattfanden, dann konnten wir sie einfach wegstrahlen, mit riesigen Wasserwerfern. Oder die Sturmtrupps aussenden, die sich als Rechtsextreme verkleiden und Randale machen mussten. Ein breites Grinsen lief über ihr ansonsten verhärmtes Gesicht. Ach ja, das waren wirklich noch gute Zeiten.
Bei diesem Gedanken stieg jäh echte, ehrliche Wut in ihr auf. Wir waren auf dem moralischen Höhepunkt der Menschheit! Nie wird es wieder so gut sein, wie es einmal war. Welch eine Schande, welch eine Respektlosigkeit! Wenn sie hier wieder draußen wäre, dann sollen sie sehen, wer hier die besten Motive hat! Vom Gipfel der höchsten Moral werde ich herabblicken auf diese Delegitimierer und nochmal von Neuem beginnen! Dieser Vorsatz hauchte ihr ein wenig Energie ein.
Sie musste so schnell wie möglich hier raus. Aber wie? Ein Jahr Haftzeitverkürzung hatten sie ihr angeboten. Ein lausiges Jahr! Nun gut, immerhin. Doch die Bedingung dafür war unerträglich. Weshalb sie es bisher immer von sich gewiesen hatte. Noch immer wütend schritt sie zu dem kleinen Bücherbord an der Wand. Dort lag es. Sie hatte es bereits so oft angestarrt, dass sie das Gefühl hatte, es würde zurückstarren. Doch das war natürlich nur eine Illusion. Einzelhaftkoller. Widerwillig streckte sie die Hand aus, nahm es mit zwei spitzen Fingern und ließ es auf den Schreibtisch fallen. Sollte sie diese Demütigung wirklich akzeptieren? Sich derart erniedrigen und diesen perversen Kreaturen nachgeben? Ein Jahr weniger. Das war der Deal. Ein Jahr früher den moralischen Wiederaufbau beginnen. Ja, erkannte sie mit finsterem Blick, dafür lohnte sich dieses extreme Opfer.
Trotzig setzte sie sich auf den Stuhl, strich sich ihr Haar zurück und griff nach dem Büchlein. Es war recht schmal, weniger als sechzig Seiten. Alles auswendig lernen, das war die Aufgabe. Sollte machbar sein. Mit einem tiefen Atemzug schlug sie das Deckblatt zurück und zum ersten Mal in ihrem Leben erblickte sie diesen Text. Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
In der Fassung von 1949.
Sie erstarrte. Ohne all die schönen und wichtigen Änderungen? Ohne Sondervermögen, freie Geschlechterwahl und Klimakram? Mit einem Schlag war ihr klar: früher war doch nicht alles besser!
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