Oben ohne?

Grafik by Florian Riemerschmid

Oben ohne- wie konnte das passieren?

Nabucco. Kenn ich. Verdi, Verona, Gefangenenchor. Ach, mal wieder Italien, das wäre schön. Sonne, Wein und Zypressen. Oder … Aufstehen! Die Klänge haben mein Großhirn erreicht, welches die Melodie widerwillig als meinen derzeitigen Weckton identifiziert. Unentschlossenen kriecht meine rechte Hand Richtung Nachttisch, im Dunkeln tastend findet sie den Unruheherd. Meine Augen widerstehen noch der Unvermeidlichkeit. Wenn der Tag schon mit Aufstehen beginnt, das konnte ja nichts werden … Der kleine Gag erheitert mich überraschenderweise immer wieder. Decke zurück, Beine auf den Boden, ein paar Schritte, Vorhang auf, einmal strecken und in die Dämmerung blinzeln. Halb sieben würde immer zu früh sein. Neben dem Lichtschalter hängt der Hand Sanitizer, ein Stoß, der erste des Tages fühlt sich immer besonders gut an.

Erst mal Duschen. Der Strahl, der mich angenehm einhüllt, ist wie immer mein bester Freund. Fast hätte ich mich wohlgefühlt, doch etwas stört. Was ist es nur? Alles ist wie immer. Nein. Doch. Nein. Aber was ist anders? Ich sehe an mir herab, alles gut. Fahre mir durchs Gesicht – da! Ha! Wie idiotisch. Hab die Maske auf! Gar nicht bemerkt, echt komisch. Hab ich überhaupt Zähne geputzt? Was ist heute nur mit mir los …?

Dabei bin ich, seit Elly hier wohnt, viel konsequenter und verantwortungsbewusster geworden. Anfangs hatten wir noch versucht, gemeinsam zu essen. Maske kurz herabziehen, Gabel zum Mund, Maske wieder hoch. Aber das war auf die Dauer keine Lösung. Schließlich lässt sich die Gefahr auf diese Weise niemals ganz ausschließen: wenn der Mund geöffnet ist, dann stellt er ein wahres Ein- und Ausfalltor dar. So beschlossen wir, getrennt zu essen, sicher ist sicher. Sich oben ohne das Bett zu teilen, wie es manche Anarchos propagierten, war für uns von Beginn an undenkbar. Ehrlichgesagt glaube ich diesen Typen auch nicht. Wenn sie das wirklich machen würden, dann wären sie schon längst unter der Erde. Elly hatte auch vorgeschlagen, neben allen Türen einen Sanitizer anzubringen, auf beiden Seiten. Die Klinken sind ja besonders gefährlich. Weiß jeder, hätte ich auch selbst draufkommen können. Zu zweit erkennt man eben mehr als allein.

Aber Maske unter der Dusche? Das war neu. Wahrscheinlich einfach aus Gewohnheit. Ja, so war es wohl, Gewohnheiten können ganz schön tückisch sein. Mit einem nach innen gekehrten Lächeln nehme ich sie ab, werfe sie verwegen aus der Dusche. Das hat sie verdient, denke ich mir, fühle mich mutig und stark.

Heute ist Office-Tag, muss halbwegs schicke Klamotten anziehen. Kein Problem, ich freu mich direkt drauf, ewiges Home Office bringt mich in einen komischen Modus. Obwohl mir die Vorstellung von der Fahrt mit der U-Bahn schon seit gestern Sorgen bereitet. Ich weiß ja, dass sie alle drei Stunden komplett desinfiziert wird, aber dennoch sind da immer eine Menge Menschen. Impfung, Maske, Sanitizer, das ist ja alles schön und gut. Aber ist das wirklich sicher? Wer kann das schon mit Bestimmtheit wissen? Ich jedenfalls nicht. Aber ganz ohne Risiko wäre das Leben ja auch langweilig. Schwachsinn! Jedes Risiko ist eines zu viel. Das wissen wir inzwischen alle. Soll ich besser doch ein Taxi nehmen? Ist immer so teuer. Und wenn es nicht sauber desinfiziert wurde nach dem letzten Fahrgast ist das Risiko genauso hoch. Wie man es macht, ist es falsch. Mir kommt das Leben außer Haus so gefährlich vor, wie nie zuvor. Erst vor drei Wochen hatte ich im Office Laurenz dabei erwischt, wie er sich die Maske runtergezogen hatte, um ein Stück Schokolade zu essen! Ich hab ihn nicht gemeldet, aber mein Blick war hoffentlich eindeutig. Nur weil er zu faul ist, in die Lobby runterzugehen, wo die Safe Cylinders stehen. In die Ein-Personen-Zellen kann man einfach reingehen und essen, was und wie man möchte! Danach startet die Auto-Desinfektion und nach zehn Minuten können sie wieder benutzt werden. Das ist eine perfekte Lösung. Gerade im Büro, wo die Luft nur alle 15 Minuten vollständig ausgetauscht und gereinigt wird, muss man besonders vorsichtig sein. Da erwarte ich dann auch diese Solidarität von meinen Kollegen.

Es riecht nach Kaffee. Was für ein Glück, dass Elly seit acht Wochen bei mir ist. Endlich! Als ich in die Küche komme sitzt sie am kleinen Tisch und scrollt durch ihr Phone. Mein ‚Morgen, Schatz‘ erreicht sie nur am Rande, flüchtig blickt sie zu mir und nickt. Auf einmal weiten sich ihre Augen, starren mich ungläubig an. Ihr leiser Schrei setzt ein paar frühe Adrenalin-Moleküle in mir frei. Was hat sie denn? Hektisch gestikulierend hebt sie die Hände vor ihre Maske. Ach du Scheiße, ich stehe vollkommen nackt vor ihr. Plötzlich selbst entsetzt drehe ich mich hektisch um und stürze aus dem Zimmer. Unter der Dusche hatte ich sie sinnloserweise dran, und jetzt komme ich oben ohne in die Küche! Wie leichtsinnig. Nein, das ist zu wenig. Wie unverantwortlich, wie hirnlos! Wenn ich sie jetzt infiziert … Nein! Das nicht! Weiter erlaube ich meinen Gedanken nicht, zu gehen. Jeder kann immer ansteckend sein, das weiß inzwischen sogar ein Kleinkind. Wenn ich sie jetzt – mein Gott, dann hätte sie mit allem recht gehabt. Und ich hätte sie für immer verloren. Oder habe ich das eben ohnehin schon?

Monatelang hatte ich sie bearbeitet. Dass wir doch zusammenziehen sollten, dass schon alles gut gehen würde, dass wir beide schließlich alt genug wären. Nach zweieinhalb Jahren könnte man es doch wagen, beschwor ich sie. Zweieinhalb Jahre, das sind 30 Monate, in denen wir bewiesen hatten, dass wir Verantwortung übernehmen können. Kein positiver Test, kein einziges Mal. Den monatlichen Pieks je pünktlich auf den Tag genau geholt, niemals eine Maskenverwarnung kassiert. Lange blieb sie zögerlich, fast hätte ich es übervorsichtig genannt. Doch sie hatte wohl recht. Wie ich soeben live erleben musste. Ich schüttle den Kopf, meine Faust knallt in meine Handfläche. Ich hätte schreien können. Doch habe ich noch immer keine Maske auf. Hektisch griff ich nach dem Spender, ziehe sie über und atme tief durch. Ja, das fühlt sich wieder etwas sicherer an, das gewohnte Gefühl der erwärmten Luft beim Ein- und Ausatmen. Diese Wohltat, die Wärme des eigenen Lufthauches zu spüren, gepaart mit dem Gefühl größter Sicherheit. Niemals hätte ich die alte Zeit zurückhaben wollen. Doch wie hatte ich es nicht bemerken können, als ich die Küche betrat? Jeder Narr kannte das unnatürliche Gefühl, die ungefilterte, kalte und eklige Luft einzuatmen. Denn passiert war es vermutlich allen schon einmal. Aber doch nicht in Gegenwart eines anderen! Noch dazu eines geliebten Menschen, den ich jetzt in tödliche Gefahr gestürzt hatte!

Das war bereits das zweite Mal. Wenige Tage nach ihrem Einzug bei mir bereits der erste böse Ausrutscher. Unverzeihlich. Als sie auf mir saß, ihren Rhythmus gefunden hatte und so herrliche Laute von sich gab, da verlor ich meine Besinnung. Egoistisch wie ich nun einmal bin, wollte ich die Erregung steigern, wollte mehr! Reines Vergnügen, ohne jede Selbstdisziplin, ohne an das Morgen, an unsere Zukunft zu denken. Im Lustwahn rief ich ihr zu, sie solle ihre Maske abnehmen! Ja, wirklich. Das habe ich getan. Ich wollte unbedingt ihr Gesicht sehen, ihre Lust, ganz ungefiltert. Sie erstarrte augenblicklich. Logisch. Was hätte sie schon anderes tun sollen. Das jähe Ende holte mich wieder zurück in die Realität, die nun mal nicht von unseren Wünschen, sondern von unserer Verantwortung für andere bestimmt wird. Ich schämte mich so unsäglich, hätte es verstanden, wenn sie sofort wieder ausgezogen wäre. Nur mein Versprechen, mich umgehend um einen Termin bei den anonymen Freiatmern zu kümmern ließ sie noch einmal nachsichtig sein. Damals. Es war keine acht Wochen her.

Und ich wusste nur zu genau, dass es kein zweites Mal geben durfte. Das Risiko war einfach zu groß. Einmal krank, immer krank, wie ein altes Sprichwort sagt. Oder: der kranke Vogel fällt vom Turm. Wer einmal niest, dem traut man nicht, und wenn er auch den Booster kriegt, wie es so trefflich heißt. Und doch war es soeben geschehen. Verdammte Nachlässigkeit. Oder war ich noch immer nicht in der neuen Zeit angekommen? Egal, es war klar, was das bedeutete. Niemals würde ich meine Scham überwinden und sie nochmals anflehen, zu bleiben. Ich habe es verbockt. Unreif, unbewusst, unverzeihlich. Mit dreiunddreißig Jahren noch immer wie ein Kind. Menschen wie ich verdienen es wirklich nicht, sich fortzupflanzen. Ist auch besser so.

Dieser Beitrag erschien ebenfalls bei „qpress.de

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