Quetzalcoatl, die Ältesten und der Übergang

Gestern war ich im anthropologischen Museum in Mexiko City. Gezeigt werden originale Relikte (und auch einige Kopien) aus der Zeit vor der Eroberung durch die Spanier. Das Besondere an meinem Besuch war mein Guide: ein mexikanischer ‚Medicine Man‘, oder auch Schamane, der mir in ganz besonderer Art die Geschichte und die Ausstellungsstücke nahebrachte. Emanuel Kakalotl spricht auch Nahuatl, die alte Sprache der Azteken, und konnte mir die fast unaussprechlichen Götter und Statuen auf tiefsinnige Weise näherbringen. Vermutlich am Bekanntesten ist Quetzalcoatl, die gefiederte Schlange, die in mehreren der Kulturen eine tragende Rolle spielt. Seine Erklärung hat mich verblüfft. Quetzal war ein wunderschön gefiederter Vogel, weshalb das Wort für die Schönheit an sich steht. Coatl ist die Schlange, zugleich ein Symbol für Wissen und Weisheit. Kombiniert ergibt sich daraus die Schönheit des Wissens, der Weisheit. Es handelt sich mitnichten um ein Fabeltier, sondern um die abstrakte Darstellung dieses besonderen Wertes.

Doch nicht jeder konnte und kann das sehen. Denn – so die weitere Erläuterung – stecken in den alten Texten und Legenden mehrere Ebenen.

Die erste und konkrete Ebene ist dem einfachen Volk verständlich – für sie ist es ein Gott in Form einer gefiederte Schlange. Die Gesellschaft damals bestand aus vier Ebenen. Dem einfachen Volk, das für die gewöhnlichen Arbeiten zuständig war, vor allem Anbau von Nahrung und Bau von Häusern. Die zweite Ebene waren die Krieger, die über dem Volk standen. Die dritte Ebene waren die Sacerdoten (Priester). Darüber gab es dann die vierte Ebene: die Eingeweihten. Sie hatten die Initiation in die letzten Geheimnisse erhalten. Diesen wenigen oblag die geistige und spirituelle Führung der Gesellschaft. So zumindest wurde es mir erklärt. Für die Eingeweihten war die gefiederte Schlange damit kein Fabelwesen, sondern eines der wichtigsten Prinzipien: die Liebe zur Weisheit.


Der ewige Reigen

Wer nun in welcher Schicht sein Leben zu verbringen hatte wurde durch die Wiedergeburt entschieden. Denn Leben und Tod waren kein Widerspruch, sondern ein unendlicher Reigen. Der Tod des Körpers war nicht der Tod der Seele, des lebendigen Prinzips an sich. Wie die sich windende Schlange war er nur ein Übergang bis zur nächsten Phase, in der wieder ein fleischlicher Körper angenommen wurde. Damit kann man gut verstehen, dass ein Menschenopfer nichts Böses war, denn die oder der Geopferte erhielt damit die Chance auf eine Wiedergeburt, vielleicht als Krieger oder sogar Priester. Im legendären Ballspiel Pelota (dem Vorgänger unseres Fußballs) wurden einmal die Verlierer, ein ander Mal die Gewinner geopfert. Was keine Strafe, sondern eine Ehre, ein heiliges Ereignis war. Was uns heute als grausam und menschenunwürdig erscheint ist in der Gewissheit der Wiedergeburt möglicherweise das Gegenteil.

Sind die vier Klassen so verschieden von unserer heutigen Gesellschaft? Die fleißigen Arbeitsbienen, die gutverdienenden „Krieger des Kapitalismus“, drittens die Lenker in Politik, Wirtschaft und Kirchen sowie die oberste Ebene, die berühmten 0,001 Prozent? Die Ähnlichkeit ist eindeutig vorhanden, mit einem extremen Unterschied: Oben sitzen nicht die Weisen, Eingeweihten, die das große Ganze und das Wohl ihres Volkes im Blick haben.

Der Rat der Ältesten

Verblüffend auch, wie damals mit Konflikten umgegangen wurde. Bei Streitigkeiten oder größeren Entscheidungen wurde der Rat der Ältesten einberufen. Der teilte sich in zwei Gruppen auf: Männer und Frauen. In ihrem jeweiligen Kreis besprachen sie die Sachlage bis sie zu einem Ergebnis gelangten. Dieses wurde von jeweils einem Vertreter dem gewählten Sprecher, dem höchsten der Ältesten, überbracht. Zusammen mit den zwei Vertretern suchte er (oder sie) daraus den bestmöglichen Kompromiss auf Basis ihrer höchsten Prinzipien. Als ich dies hörte konnte ich nicht anders, als mir genau so etwas für unser Gemeinwesen zu wünschen. Auf lokaler Ebene, wo sich die „Elders“ in den Dienst der Gemeinschaft stellen. Und zugleich von allen respektiert werden.


Viva Mexico!

Zur Krönung des Tages besuchte ich eine Tanzvorstellung im Palacio de Bellas Artes, einem wunderschönen Theatersaal im Herzen des historischen Teils von Mexiko City. Die Tänze und Kostüme zeigten verschiedene Epochen aus der Geschichte des Landes. Angefangen in der prähispanischen Zeit über spanische Tänze, die Zeit des Freiheitskampfes bis hin zu moderneren Interpretationen. Jeweils begleitet von Mariachis in unterschiedlicher Besetzung. Stimmungsvoll, farbenfroh, traditionell. Als am Ende – zum großen Finale – drei mal „Viva Mexico“ angestimmt wurde jubelte das überwiegend mexikanische Publikum begeistert.

Und ich saß da und kämpfte mit den Tränen. Nicht vor Rührung oder Ergriffenheit, sondern … ja was eigentlich? Überrascht blickte ich so gut es ging in mich hinein. Was geschah da in diesem Moment? Bei grandiosem Finale und allgemeiner Begeisterung versank ich in Trübsal? Tatsächlich wurde es mir dann schnell bewusst, was so unerwartet in mich gefahren war. Es war das traurige Gefühl einer Leerstelle, die an und in mir nagte. Die plötzliche Bewusstheit, dass all diese Menschen, die freudig jubelten, etwas hatten, was mir fehlte. Die Liebe zum eigenen Land.

In allen Ländern, die ich im Lauf meines Lebens bereist habe – es mögen etwa 25 gewesen sein – ist mir eines aufgefallen – nein, im Grunde fällt es mir erst jetzt auf: alle Menschen schimpfen über ihre Regierung – und zugleich lieben sie ihr Land! Kann man „sein“ Land lieben? Was genau liebt man dabei? Die Geschichte, besondere Erfolge, die Menschen – also mehr oder weniger seinesgleichen – oder eine transzendierte Idee? Ich weiß es nicht.

Kann ein nicht vorhandenes Gefühl schmerzen?

Noch nie zuvor habe ich diese Leerstelle so deutlich gefühlt.

Was ist das für ein Gefühl, das sich über ein nicht vorhandenes Gefühl grämt?

Und: ist das überhaupt zeitgemäß? Wäre nicht die Liebe zu den Menschen, zu allem Lebendigen richtiger? Einige wenige Male wurde mir ein Schimmer dieses Gefühls geschenkt. Doch verschwand es im Alltag sogleich wieder.


Kampf als Teil des Lebens

In der Geschichte Mexikos ging es immer wieder um Kampf. Den Kampf gegen die Spanier, die Nordamerikaner (fast die Hälfte des Territoriums gehen im Krieg 1846-48 verloren, einschließlich der heutigen amerikanischen Bundesstaaten Kalifornien, Arizona, Colorado, New Mexico und Texas), gegen die korrupten Regierungen (Mexikanische Revolution 1910 bis 1917), die Kartelle. Der Kampf um die eigene Unabhängigkeit ist – obwohl bereits 202 Jahre her – noch immer lebendig. Wann haben wir für die eigene Unabhängigkeit und Freiheit gekämpft? Mir kommt nichts in den Sinn. Könnten wir heute kämpfen, wenn es notwendig würde? Oder vielleicht bereits ist?

Kämpfen die Mexikaner heute? Die große Klasse des einfachen Volkes ist Tag für Tag damit beschäftigt, genug Geld fürs einfache Überleben zu verdienen. Die Mittelschicht ist auch hier zu Kriegern für Konsum mutiert. Die Politiker sind korrupt bis unter die Haarspitzen. Und was ist mit der obersten Ebene, den Weisen und Eingeweihten? Sie gibt es hier ebenso wenig wie bei uns.

Der Schamane namens Kakalotl hat sein Leben einer Mission gewidmet: den Menschen wieder ihren spirituellen Teil näherzubringen, zusammen mit den Ideen der alten Traditionen. Sein Traum ist die Entwicklung des Bewusstseins von immer mehr Menschen. Zusammen mit der Gewissheit, dass der Tod nicht das Ende, sondern ein Übergang ist. Denn ist die finale Angst vor dem eigenen Tod erst überwunden, so verlieren viele andere Ängste ihre Macht.

Aktuell leben wir in einem Zeitalter des Übergangs. Wie bereits mehrmals auf unserem Planeten. Das Ende der Imperien Ägyptens, Roms, Großbritanniens. Heute: der katholischen Kirche, des Finanzkapitalismus, der USA? Erst im Rückblick werden wir es wissen. Doch jeder Niedergang brachte etwas Höheres hervor. Deshalb werden die Pläne, die den Materialismus ins Unermessliche steigern wollen (Transhumanismus, KI, genetische Manipulation des Lebens) scheitern. Denn der nächste Entwicklungsschritt wird in Richtung gelebter Spiritualität gehen. Es hat bereits begonnen. Doch möglicherweise kommt zuvor erst eine Zeit des Kampfes. Wie bei jedem Übergang. Das Wichtigste und zugleich Schwierigste bei diesem Kampf wird es sein, den Gegner zu identifizieren.

Merkwürdig, diesen Text mit dem Wort ‚Kampf`‘ zu beenden. Und doch erscheint es mir fast zwangsläufig. Mal sehen ob mich die mexikanische ‚plant medicine‘ zu neuen Einsichten bringt …

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