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Zonenrandgebiete
Zonenrandgebiete

Die Erde ist eine Scheibe. Energiemedizin wirkt erstaunlich oft. Die EU ist eine demokratische Institution. 9/11 war ganz anders, als uns erzählt wird. CO2 vernichtet das Klima. Karl Lauterbach ist kompetent. Sechs Aussagen, von denen von Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, vermutlich nicht jede geglaubt wird. Doch damit hören die Gemeinsamkeiten unter der Leserschaft schon auf, denn welcher Mix an Aussagen geglaubt, für möglich und für Unsinn gehalten wird, ist tatsächlich sehr unterschiedlich. Woran liegt das?

Jeder von uns verfügt über ein inneres Bild der Welt. So ist es, so sind die Dinge, das glaube ich, jenes aber nicht: diese Filterwirkung unserer Weltsicht ist eminent wichtig, um „sicheren Boden“ unter den Füssen zu haben. Denn was würde geschehen, wenn wir jeder Werbeaussage, jedem Politikerwort, jeder abseitigen Theorie Glauben schenken würden? Unsere Welt würde im inneren Chaos versinken. Zum Glück verfügen wir über ziemlich fest angelegte Grenzen für das, was wir für wahr halten, was wir uns eventuell noch vorstellen können und was uns als sicher unwahr erscheint. Dies vermittelt Stabilität und die notwendige Sicherheit, uns in dieser komplexen Welt bewegen zu können.

Man stelle sich nur kurz das Gegenteil vor: wir würden jeder Werbung glauben und sofort eilen, um all die Produkte zu kaufen, ohne die wir angeblich nicht leben können. Oder: jemand erzählte uns, Masken wären wirkungslos, weshalb man sie ab sofort nicht mehr verwenden müsse. Schlimmer noch: eine Studie zeigt angeblich, dass keine Gefahr drohe, wenn man mit geschlossenen Augen über eine vielbefahrene Straße liefe. Und so weiter: man sieht, wie wichtig es ist, dass wir einen stabilen Rahmen für unser Weltbild besitzen und nicht alles glauben, was erzählt wird.

An den Rändern

Was aber ist an den Rändern? Denn die Welt ist nun mal nicht schwarz-weiß, vieles lässt sich nicht selbst überprüfen. Wirkt Homöopathie? Reichen positive Gedanken, um Veränderungen herbeizuführen? Wurde Kennedy von einem Einzeltäter erschossen? Gibt es Außerirdische? Sehr viele Fragen enden in einer Zone der inneren Unentschiedenheit, des nicht-genau-Wissens. Man findet in sich zu wenig Erfahrungen und Kriterien, um wirklich ein Urteil über die Glaubhaftigkeit zu fällen. Die Antworten darauf werden in die Zukunft verschoben, die Fragen landen im Zonenrandgebiet unserer Weltsicht.

Hingegen gibt es eine Reihe von Dingen, die wir keinesfalls bereit sind zu glauben. Die flache Erde hatten wir schon. Wie steht es mit Eliten, die noch mächtiger als Regierungen sind? Oder der Idee, Lockdowns würden einen Virus beeinflussen? Trump war ein genialer Präsident? Oder: Außerirdische haben beim Bau der Pyramiden mitgewirkt? Sie merken, dass unwillkürlich Widerstand auftaucht, dass einige der Aussagen sofort aussortiert werden, nicht einmal in das Feld der Möglichkeiten, sondern in das Reich der sinnlosen Theorien, der Fake News verschoben werden.

Die wirklich spannende Frage dabei ist: weshalb ist das bei jedem Menschen unterschiedlich? Welcher innere Prozess entscheidet darüber, in welches Töpfchen diese möglichen Wirklichkeiten fallen? Und: sind all diejenigen, die das anders sehen als ich, irgendwie bedauernswerte Geschöpfe? Oder böswillige Verschwörungstheoretiker? Eine endgültige Antwort auf diese Frage wird es wohl nie geben. Denn zu komplex sind wir Menschen, ist unsere Sozialisation, unsere innere Struktur, unser Wunsch nach Zugehörigkeit und letztlich unsere Auswahl der Realitätsverkünder (Medien). Da jeder Mensch seine eigenen „Zonenrandgebiete“ möglicher (Un)Wahrheiten hat, deren Wirklichkeitsgehalt sie oder er nur schwer verifizieren kann, scheinen wir es hier mit einem echten Dilemma zu tun zu haben. Denn das, was man für glaubhaft hält, entscheidet über reale Handlungen, die man ausführt oder unterlässt. Und umgekehrt: wer würde Entscheidungen treffen auf Basis völlig unglaubhafter Aussagen? Das, was wir für wahr halten, beeinflusst unser Leben maßgeblich. Somit ist es heute tatsächlich lebens-notwendig, die eigenen Randgebiete auszuleuchten, um mehr Licht ins Ungewisse zu bringen. Denn vielleicht hatten unsere Entscheidungen noch nie mehr Bedeutung und Tragweite als heute.

Licht im Dunkeln

Der erste Schritt dazu besteht in dem aktiven Versuch, Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Zuvor ist allerdings erst noch etwas anderes nötig: der eigene Wunsch, hier weiterzukommen, tiefer zu graben, mehr Klarheit zu gewinnen. Denn dies scheint eines der größten Rätsel zu sein: weshalb gibt es Menschen, die diesen Wunsch verspüren und andere, denen dieses Bedürfnis fremd ist? War dies schon immer so oder ist es eine neuere Entwicklung? Ist es im Charakter festgeschrieben oder lässt es sich verändern? Und falls ja: welche Instanz in unserem „inneren Team“ entscheidet sich für die Veränderung? Fragen über Fragen …  Zum Glück gibt es so etwas wie einen sanften Einstieg, eine Probebohrung im Schotter der Randgebiete quasi.

Dies sähe so aus: man wähle drei bis vier Medien aus, die man ansonsten nie konsumiert, bevorzugt aus dem Reich der unabhängigen Nachrichtenseiten, und lese ein bis zwei Wochen parallel zum Üblichen. Verwundert, vielleicht erschrocken, wird man feststellen, dass die Interpretationen des Geschehens voneinander abweichen. An dieser Stelle wird es spannend, denn man selbst wird auf einmal zum eigenen Beobachtungsobjekt! Was lehne ich sofort ab (das Reich der Unwahrheiten)? Woran könnte etwas dran sein (die Randgebiete)? Und was kann ich durchaus akzeptieren (die eigene Wahrheit)? Je achtsamer und aufrichtiger man mit sich selbst ist, desto mehr Gewinn wird man daraus ziehen können.

Möglicherweise entsteht dabei der Wunsch, sich auf die Suche nach vertrauenswürdigen Quellen abseits der eingetretenen Pfade zu machen, einmal eine Zahlenreihe selbst zu interpretieren, ein Studienergebnis tatsächlich auch zu lesen und für sich selbst zu bewerten. Dann kann es allerdings gefährlich werden. Es besteht das Risiko neuer Erkenntnisse, die das bisher Geglaubte auf die Probe stellen. Im schlimmsten Falle müsste das bisherige Weltbild an dieser Stelle korrigiert werden!

Mut? Mut!

Gerade der letzte Punkt ist einer der schwierigsten. Denn er setzt sowohl Selbsterkenntnis voraus als auch Mut. Tatsächlich erfordert kaum etwas mehr Mut, als vor sich selbst und anderen einzugestehen, dass man sich geirrt hatte. Aus irgendeinem Grund hat die Evolution unser Gehirn so gestaltet, dass es nur unter großem Energieeinsatz willens ist, einen einmal eingeschlagenen Weg – oder Standpunkt – zu korrigieren. Wie oben schon beschrieben dient es vermutlich der Stabilität unseres Selbst- und Weltbildes, kann aber im schlimmsten Fall dazu führen, dass wir uns und anderen durch dieses Beharren großen Schaden zufügen. Es scheint, als wäre neben einem Belohnungszentrum in uns allen auch ein Beharrungszentrum angelegt. Ein Teil unseres Gehirns, der sich mit dicken Mauern umgeben hat und jedes Eindringen verhindert. Je älter wir werden, desto dicker die Mauern. Es ist ein Zeichen persönlicher Reife, diese Hürde das eine oder andere Mal zu überwinden.

Vor und hinter all dem steht jedoch der Wunsch und Wille, den Dingen aktiv tiefer auf den Grund zu gehen. Die Betonung liegt auf „aktiv“, denn rein passiv wird es nicht passieren. Es erfordert Energie, selbst in das Dickicht der widersprüchlichen Fakten und Meinungen vorzudringen. Doch noch niemals zu unser aller Lebzeit war es so wichtig wie heute, denn unsere Zukunft hängt davon ab. Es geht schon lange nicht mehr um Rechthaben, Besser-Wissen oder intellektuelle Selbstbespiegelung. Es geht um Entscheidungen. Deine Entscheidungen.

Dieser Beitrag erschien ebenfalls im „kritischen Netzwerk

 

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